Nach einem Beitrag von
Herrn Dr. Martin Armgart in
40 Jahre Patenschaft (1953 – 1993)
Stadt Bochum – Kreis Neidenburg

und nach dem Entwurf von
Herrn Klaus Zehe
»Einige Informationen über den Kreis Neidenburg«.


Zur ostpreußischen Vor- und Frühgeschichte gab es im Kreis Neidenburg zahlreiche Funde, die bis in die Mittelsteinzeit zurückreichen. Sie bildeten den Schwerpunkt des »Grenzland-Museums«, das Ende der 30er Jahre von Gerhard Knieß in Neidenburg aufgebaut wurde. Das Fundgut stammt vornehmlich aus Grabfunden. Eine Fundortliste für das 1. – 4. Jahrhundert nach Chr. nennt 18 Orte aus dem Kreis; die Funde werden den Ostgermanen zugeordnet. Für eine nur im Südwesten Ostpreußens nachzuweisende Fundgruppe wird die Bezeichnung »Soldau-Neidenburger Gruppe der ostgermanischen Kultur« gebraucht. Als wissenschaftlich wichtigster Fund gilt das »Fürstengrab von Pilgramsdorf« aus dem frühen 4. Jahrhundert. Auf die Ostgermanen folgten die Prußen, nach denen (Ost- und West-) Preußen benannt ist. Sie gehören zu den baltischen Völkern und sind verwandt mit den Litauern, Kuren und Letten. Die Balten bilden eine eigene indoeuropäische Völkergruppe neben den Germanen und Slawen. Nach 1200 bemühte sich das südlich angrenzende Masowien um die Christianisierung (und Eroberung) des prußischen Gebietes. Der Herzog von Masowien herrschte über eines der Teilreiche, in die sich Polen zu dieser Zeit aufgespalten hatte. Der Widerstand der Prußen erwies sich jedoch als zu groß. So wurde schließlich auf Ersuchen des Herzogs gegen sie der Deutsche Orden angesetzt. Es handelt sich um einen der drei großen Ritterorden, die während der Kreuzzüge im Heiligen Land mit dem Ziel des Heidenkampfes entstanden. Der Orden sicherte sich durch Privilegien von Kaiser, Papst und Herzog ab, eroberte zwischen 1231 und 1283 die Siedlungsgebiete der Prußen und errichtete eine eigene Landesherrschaft. Dorthin, in die Marienburg, verlegte der Orden 1309 auch sein Haupthaus und machte das Land zum Zentrum seiner Tätigkeit. Das Land wurde in Komtureien unterteilt, die jeweils von einer Gruppe Ordensritter (einem Konvent) unter einem Komtur verwaltet wurden. Das Neidenburger Kreisgebiet gehörte ebenfalls zu diesem Ordensstaat. Es wird aber erst ab 1321 urkundlich faßbar. Zu dieser Zeit begann der Orden mit der Erschließung des als »Große Wildnis« bezeichneten Grenzgebietes zu Masowien. Komtureien des Altsiedellandes an Weichsel, Nogat und Ostsee erhielten jeweils den angrenzenden Teil der Wildnis zugewiesen. So gehörte das Neidenburger Gebiet zur Komturei Christburg (bei Stuhm), das benachbarte Ortelsburger Gebiet zur Komturei Elbing.

Während der Orden zuvor im Zuge der mittelalterlichen Ostsiedlung Siedler aus Deutschland herangezogen hatte, konnte er für die Erschließung der Wildnis bereits auf die eigene Bevölkerung im Altsiedelland zurückgreifen. Neben der Binnenwanderung der »zweiten Generation« der deutschen Zuwanderer gab es gerade unter den Siedlern im Gebiet von Osterode und Neidenburg zahlreiche Prußen. Der Christburger Anteil der Wildnis entwickelte sich so gut, daß daraus eine eigene, erstmals 1341 erwähnte Komturei mit Sitz in Osterode gebildet wurde. 1343 wurde der genaue Grenzverlauf mit Masowien festgelegt. Er bildete auch die Südgrenze des späteren Kreisgebietes und blieb bis 1919 unverändert.

Wappen Stadt Soldau
Stadt Soldau
Wappen Stadt Neidenburg
Stadt Neidenburg

Ein Jahr danach, 1344, wurde die Gründungsurkunde der Stadt Soldau ausgestellt. 1349 erhielten die Bürger eine günstigere Fassung. Die Burg Neidenburg wird 1359 erstmals erwähnt, eine Gründungsurkunde der Stadt wurde 1381 ausgestellt. Es waren die beiden südlichsten Ordensburgen und Städte im östlichen Teil des Ordensgebietes. 1348 wird erstmals ein Ordensritter als Pfleger zu Soldau erwähnt; in Neidenburg findet sich 1409 der früheste Beleg für solch einen Vertreter des Osteroder Komturs. 1410 fand bei Tannenberg, unmittelbar nördlich des Kreisgebietes, eine der größten Schlachten des Mittelalters statt. Der Deutsche Orden erlitt gegen Polen und Litauen eine schwere Niederlage und verlor seine Vormachtstellung in der Region. In diesen Kämpfen und in den folgenden Kriegen mit Polen war das südliche Ostpreußen zumeist Kriegsschauplatz und nahm schweren Schaden. 1454 – 1466 herrschte ein 13-jähriger Bürgerkrieg. Unzufriedene Adlige und Städte erhoben sich gegen den Orden und wählten den König von Polen zum Schutzherrn. Auch die Stadt Neidenburg und einige benachbarte Adlige schlossen sich der Opposition an, während die Umgebung weiter zum Orden hielt. Bei der Landesteilung im Thorner Friedensschluß von 1466 verblieb das Neidenburger Kreisgebiet beim Orden.

Nach 1410, vor allem aber nach 1466 ereigneten sich größere Einwanderungen aus Masowien in das wirtschaftlich darniederliegende südliche Ostpreußen. Es kamen vor allem Angehörige des Kleinadels, die hier günstig Güter erwerben konnten. Während sich weiter im Norden die Prußen allmählich den Deutschen assimilierten, nahm die Bevölkerung im südlichen Ostpreußen die »masurische Sprache« an. Sie war mit zahlreichen deutschen Worten durchsetzt und machte die Veränderungen des Polnischen in der Neuzeit nicht mit. Im 19. Jahrhundert bürgerte sich für die Bewohner die Bezeichnung Masuren ein; vereinzelt findet sich der Name schon im 18. Jahrhundert. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts sprachen die meisten Masuren neben oder statt des Masurischen Deutsch. Auch viele Orte mit masurischen Namen wurden in neuerer Zeit umbenannt. Erste Ortsumbenennungen gab es bereits 1878. Die weitaus meisten fanden jedoch in einer großen, von den Nationalsozialisten initiieren Aktion im Jahre 1938 statt.

Neben der Sprache ist für dieses Gebiet die evangelische Konfession kennzeichnend. Das östliche Preußen schloß sich 1525 als erster Flächenstaat der Reformation an. Ein Jahr danach, 1526, fiel das zuvor lehnsabhängige Herzogtum Masowien an die polnische Krone. In Polen setzte sich die katholische Gegenreformation durch. Für einige Jahrzehnte bildete jedoch Preussen den wichtigsten Stützpunkt für evangelische Prediger, die sich um die Verbreitung ihrer Konfession in Polen bemühten. Unter anderem fertigte Johannes Radomski, 1562 – 1572 Pfarrer und zuvor Diakon in Neidenburg, eine polnische Übersetzung des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses an. Im südlichen Ostpreußen wurden auch evangelische Glaubensflüchtlinge aus anderen Ländern angesiedelt. Am bekanntesten sind die 1549 gekommenen »Böhmischen Brüder«. Zahlenmäßig weitaus größer waren jedoch Glaubensflüchtlinge aus Polen, wovon besonders die »Sozianer« zu nennen sind. Im 18. Jahrhundert verfaßten mehrere Geistliche aus dem Kreisgebiet Gesangbücher und religiöse Erbauungsliteratur in masurischer Sprache, teilweise im Auftrag der preußischen Regierung. Genannt seien hier Tschepius, Wasianski und Alexius. Mit der Einführung der Reformation endete auch die Herrschaft des Deutschen Ordens. Aus seinem Gebiet wurde ein Herzogtum Preußen unter polnischer Lehnshoheit. Der letzte Hochmeister des Ordens in Preußen, Albrecht von Hohenzollern aus dem Hause Ansbach, ein Verwandter des Kurfürsten von Brandenburg, wurde Herzog. Nach dem Aussterben dieser Nebenlinie erbten die Kurfürsten das Land. Die Verwaltungsgliederung des Ordens blieb auch nach Aufhebung der Ordensherrschaft bestehen. Die Verwaltungseinheiten der Ordenszeit erhielten die Bezeichnung »Hauptämter«. An ihrer Spitze standen (neben ehemaligen Ordensrittern) einheimische Adlige. Das Herzogtum wurde in drei Kreise unterteilt; die Hauptämter Neidenburg und Soldau zählten zum oberländischen Kreis. Ab 1584 waren sie in »Personalunion« verbunden, d.h. nur noch mit einem gemeinsamen Amtshauptmann besetzt. Die beiden verbundenen Hauptämter umfaßten bereits den größten Teil des späteren Kreisgebietes.

In der Ordenszeit konzentrierte sich die Besiedlung vornehmlich auf den Westen und Süden des Kreisgebiete. In der frühen Neuzeit wurden auch eine Anzahl Dörfer im von Seen und Mooren durchzogenen Osten errichtet. Die Entstehung der Orte läßt sich auch anhand ihrer besitzrechtlichen Bezeichnungen einordnen. Gründungen des Ordens waren die Freidörfer. Sie wurden von freien Bauern bewohnt. Meist waren es Köllmer – Freibauern nach einem besonders günstigen Recht, das nach dem Oberhof Kulm in Westpreußen benannt ist. Zumeist ordenszeitlich sind auch die adligen Dörfer und Güter; sie leisteten Abgaben an einen vom Orden angesetzten Adligen. Amtsdörfer (etwa 1550 – 1600) leisteten ihre Abgaben an den Amtshauptmann. Sie lagen meist auf altem Ordensbesitz, der nach der Reformation für Siedlungsmaßnahmen genutzt wurde. Schatulldörfer (etwa 1670 – 1713) leisteten Abgaben an die »private Kasse« des Landesherrn, die »Schatulle«. Sie entstanden oft auf Waldrodungen, da die meisten Wälder im Besitz des Landesherrn waren. Wildnisdörfer (etwa 1714 – 1774) waren kleine Siedlungen, die sich meist um Pech- und Teeröfen in der verbliebenen Wildnis gebildet hatten.

Im Zusammenhang mit den Öfen steht die Eisengewinnung. Der Norden des Kreisgebietes ist reich an Raseneisenerz. Der erste urkundliche Beleg über einen Eisenofen in Ostpreußen von 1372 betrifft das nördlich von Neidenburg gelegene Kommusin. Im gleichen Gebiet findet sich reichlich Kalkstein; die Kalkbrennerei brachte gerade im Winter einen guten Zusatzverdienst. Neidenburg hatte den Ruf einer Töpferstadt; besonders begehrt waren Ofenkacheln. Der wichtigste Wirtschaftszweig war aber die Landwirtschaft. Auf den meist weniger guten lehmigsandigen oder Sandböden wurde überwiegend Getreide; seit dem späten 18. Jahrhundert auch Kartoffeln angebaut. Aufgund der Grenzlage gab es regen Handelsverkehr. Bei Soldau lag einer der größten Viehmärkte des Landes, Umschlagplatz für Rinder aus Zentralpolen. Selbst die herzogliche Hofhaltung in Königsberg kaufte hier ein. Andererseits wurde viel Vieh aus dem Kreis nach Treuburg (Oletzko) gebracht und dort weiter nach Osten verkauft. Rege wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen bestanden auch nach Elbing, Danzig und Thorn. Sie waren enger als jene ins weit entfernte Königsberg. Branntweinbrenner, Krugbesitzer und Mälzenbräuer (Besitzer einer Braugenehmigung für Bier) hatten im Kreisgebiet ein gutes Auskommen.

Im 16. und 17. Jahrhundert geriet das Land in die schwedisch polnischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Ostseeraum. Den von 1655 – 1660 dauernden Krieg konnte der Kurfürst von Brandenburg zur Lösung der Lehnsabhängigkeit nutzen. Jedoch fielen 1656 und 1657 Polen und mit ihnen verbündete Krimtataren unter schweren Verwüstungen in das südliche Ostpreußen ein. Es heißt, zwei Drittel der Ortschaften zwischen Oletzko (dem späteren Treuburg) und Neidenburg seien zerstört worden. Neidenburg selbst konnte sich zwar bei einer Belagerung 1656 behaupten – der »Tatarenstein«, ein großer Findling im Südosten der Stadt, erinnert noch heute daran. Soldau und das flache Land erlitten beträchtliche Schäden. Wenige Jahrzehnte danach wurde Ostpreußen von der »Großen Pest« heimgesucht. Zwischen 1708 und 1711 starben mehr als 240.000 Menschen, 40 % der Bewohner des östlichen Preußens. Auch das Neidenburger Kreisgebiet erlitt durch beide Ereignisse große Bevölkerungsverluste. Fast 80 % der bebauten Fläche lag wüst. Im Gegensatz z.B. zum Nordwesten Ostpreußens gibt es daher im Kreis Neidenburg kaum »bodenständige Familien«, die sich im gleichen Dorf bis zu den frühesten schriftlichen Erwähnungen zurückverfolgen lassen. Die Wüstungen sind für den Kreis Neidenburg bisher nicht erforscht. Ihr Ausmaß läßt sich aber aufgrund einer Arbeit über den Nachbreiskreis Osterode vermuten. Der Wiederaufbau des Landes – vor allem des nordöstlichen Teiles um Insterburg und Gumbinnen – gilt als herausragende Leistung von König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, dem »Soldatenkönig«. Besonders bekannt ist die abschließende Ansiedlung der 1732 aus dem Salzburger Gebiet vertriebenen Protestanten. Ähnliches war anschließend für das südliche Ostpreußen geplant. Wie im Nordosten Gumbinnen, so war nun Neidenburg als Standort einer »Kammer-Deputation« vorgesehen, die dieses leiten sollte. Der Tod des Königs und die Schlesischen Kriege verlagerten aber das Interesse in andere Gebiete. Das Kreisgebiet gehörte weiter zum Bezirk der Kriegs- und Domänenkammer (seit 1808 Regierungsbezirk) im weit entfernten Königsberg. Erst 1905 wurde ein eigener Regierungsbezirk für das südliche Ostpreußen mit Sitz in Allenstein geschaffen.

Unter der Herrschaft Friedrichs II. (des Großen) wurde die Verwaltung im östlichen Preußen neu organisiert. Neidenburg wurde Sitz mehrerer Verwaltungseinrichtungen für den Südwesten Ostpreußens; 1751 wurde die Stadt Sitz einer Justizkommission und eines Domänen-Justizamtes, 1752 eines Steuerrates (für die Städte der Umgebung) und eines der zehn Landräte (für die ländlichen Gebiete).

Nach der Niederlage Preußens gegen das napoleonische Frankreich 1806/07 wurden zahlreiche Reformen durchgeführt. Darunter war eine weitreichende Besitzregulierung auf dem Lande. Die »Erbuntertänigkeit« von Bauern gegenüber adligen Gutsbesitzern wurde aufgehoben. Ab einer gewissen Größe konnten die Bauern ihre Verpflichtungen gegen Geldzahlungen ablösen. Der Gemeindebesitz in den Dörfern wurde größtenteils aufgelöst, das gemeinsame Wirtschaften in einem Dorf hörte auf. Einzelne Bauern errichteten neue Höfe als »Abbauten« auf ihren Parzellen außerhalb der alten Siedlung.

Bei der Kreiseinteilung in Ost- und Westpreußen im Jahre 1818 wurde der neue Kreis Neidenburg geschaffen. Er bestand aus den beiden Städten Neidenburg und Soldau sowie aus 159 Landgemeinden, darunter 55 selbständigen Gutsbezirken. Neben den verbundenen Hauptämtern Neidenburg und Soldau kamen zum neuen Kreis Teile des Erbhauptamtes Gilgenburg im Nordwesten und des zuvor eng mit dem Amt Neidenburg verbundenen Amtes Willenberg im Nordosten. Der Kreis gehörte zunächst zum Regierungsbezirk Königsberg, ab 1905 zum neu gebildeten Regierungsbezirk Allenstein. 1818 hatte er 22.166 Bewohner und eine Fläche von 1638 qkm.

Zwischen 1818 und 1905 hat sich die Bevölkerungszahl im Kreis Neidenburg mehr als verdoppelt. Die Wirtschaftsentwicklung war gut, wozu auch Meliorationen und bessere verkehrsmäßige Erschließung beitrugen. Nach 1850 wurde ein Netz von Chausseen angelegt. Die Arbeiten boten auch eine Verdienstmöglichkeit in den beschäftigungsarmen Monaten. Soldau wurde zum Kreuzungspunkt mehrerer Bahnlinien (u.a. Warschau–Thorn). Neidenburg selbst erhielt 1888 einen Bahnanschluß. 1858 wurde eine Kreissparkasse gegründet, 1852 die erste Meliorationsgesellschaft Ostpreußens, um Moorgebiete trockenzulegen. Die Nutzfläche erhöhte sich beträchtlich. Dennoch konnten nicht alle Menschen zu Grund und Boden kommen. Die Industrialisierung bot bessere Arbeitsmöglichkeiten und höhere Löhne.

Stadtwappen Bochum
Stadt Bochum – Patenstadt der Kreisgemeinschaft Neidenburg

Nach 1870 – mit Schwerpunkt um die Jahrhundertwende – gingen viele Jüngere ganz oder zeitweise nach Königsberg, Berlin und vor allen in die Zechen und Fabriken des Ruhrgebietes. So zählte der »Allgemeine Knappschaftsverein« in Bochum im Jahre 1907 unter den Ruhrbergleuten 6.130 Männer aus dem Kreis Neidenburg. Diese Zahl entspricht über 11% der gesamten Kreisbevölkerung – vom Baby bis zum Greis – und läßt das Ausmaß der Wanderungsbewegung für Neidenburg erkennen. In vielen Fällen bildeten Verwandte im Ruhrgebiet nach 1945 »Anlaufstellen« für heimatvertriebene Neidenburger, und die Integration der Vertriebenen gelang hier rascher und problemloser als in anderen Teilen Deutschlands.

Ostpreußen gehört zu den wenigen Gebieten des Reiches, die im I. Weltkrieg feindliche Besetzung und schwere Zerstörungen hatten. Direkt zu Beginn des Krieges waren russische Armeen weit nach Ostpreußen eingedrungen. Ihr Vorstoß wurde in einer großen Schlacht vom 26. – 30. August 1914 abgewehrt, die russische Armee vollständig besiegt. Unter Bezugnahme auf die Schlacht von 1410 wurde sie nach Tannenberg benannt. Vor der Schlacht hatten die Russen Neidenburg erobert; ein Teil der Schlacht fand im Neidenburger Kreisgebiet statt. 61 Soldatenfriedhöfe sowie 2.089 kriegszerstörte Gebäude, unter anderem das Rathaus und die evangelische Kirche in Neidenburg, zeugen von der Schwere der Kämpfe im Kreis. Die Schäden wurden noch während des Krieges behoben. Eine wichtige Hilfe waren dabei Patenschaften von Städten im gesamten Reich. So hatte Köln die Patenschaft für den Aufbau in der Stadt Neidenburg übernommen. Die 1920 nach Berlin eingemeindete Stadt Charlottenburg war Pate beim Aufbau der Stadt Soldau.

Nach dem Ersten Weltkrieg mußte das Deutsche Reich 1919 in Versailles zustimmen, daß dem wiedererrichteten polnischen Staat auch der Eisenbahnknotenpunkt Soldau und 29 Ortschaften in seiner Umgebung (501 qkm mit 24.767 Bewohnern) abgetreten wurden. Die Übergabe erfolgte am 10. Januar 1920. Der Kreis Neidenburg verlor damit 29,65 % der Fläche und 40,39 % der Bevölkerung. Über die Zugehörigkeit weiterer Gebiete des Deutschen Reiches sollten Volksabstimmungen entscheiden. Bei der Abstimmung im südlichen Ostpreußen am 11. Juli 1920 stimmten im Restkreis 22.235 Stimmberechtigte für den Verbleib bei Deutschland, nur 330 für den Anschluß an Polen. Mit 98,4 % lag das Ergebnis noch etwas höher als im gesamten Abstimmungsgebiet mit 97,9 % der Stimmen. Eine große Unterstützung kam dabei von 10.830 Stimmberechtigten der »Liste B« (im Kreis Geborene mit Wohnsitz außerhalb des Abstimmungsgebietes), die meist aus dem Ruhrgebiet zur Wahl angereist waren.

Wie überall im Reich gewann der Nationalsozialismus in der Krisenzeit um 1930 auch im Kreisgebiet Anhänger – manche aus Überzeugung oder Berechnung, gerade im Restkreis Neidenburg in vielen Fällen aus Verzweiflung über die Situation. 1932 wurde die NSDAP stärkste Partei bei den Wahlen. Nach 1933 konnten aber in so manchem Fall Landrat und Verwaltung Anordnungen der Partei zum Wohle des Kreises abbiegen oder umgehen. Die Kreisleiter der Partei wurden in rascher Folge abberufen. Der letzte Neidenburger Superintendent Kurt Stern war ein eifriger Vertreter der bekennenden Kirche und wurde mehrfach verhaftet. Besonderen Verfolgungen waren die Juden des Kreises (1933 127 Personen) ausgesetzt. In der sogenannten »Reichskristallnacht« 1938 wurde auch die Neidenburger Synagoge zerstört; ein jüdischer Bürger Neidenburgs ermordet. Entgegen andersgerichteter Pläne der Partei gelang es der Stadt, die Ruine zu erwerben und dort an zentraler Stelle das »Grenzlandmuseum« zu errichten.

Nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 kam das Soldauer Gebiet wieder zum Kreis Neidenburg zurück. Am 22. Juni 1941 begann der Rußlandfeldzug. Nach der Niederlage von Stalingrad wich die Ostfront zurück. Schon im Frühjahr 1944 konnte man im Kreisgebiet ihren dumpfen Kanonendonner vernehmen. Das sich eine Katastrophe riesigen Ausmaßes anbahnte, ahnten die meisten Bewohner noch nicht. Vom 18. – 21. Januar 1945 eroberten sowjetische Truppen das Kreisgebiet. Eine Räumungsanordnung war erst während der Kämpfe ausgegeben worden, und fast alle der eilig zusammengestellten Trecks der Kreisbevölkerung wurden überrollt. Es folgten Flucht und Vertreibung fast der gesamten Bevölkerung Ostpreußens. Bereits am 23. Mai 1945 wurde die Verwaltung des Kreisgebiets an Polen übergeben. Im Postdamer Abkommen vom 2. August 1945 vereinbarten die Siegermächte die Teilung Ostpreußens in eine nördliche Hälfte unter Verwaltung der Sowjetunion und eine südliche unter polnischer Verwaltung.