budzinski

Selbstbildnis (Lithographie)
von Robert Budzinski


In „Westermanns Monatshefte“ November 1929 veröffentlichte Robert Budzinski diese Selbstdarstellung mit acht ein- und acht mehrfarbigen Abbildungen seiner Gemälde und Zeichnungen.

Quelle: Robert Budzinski, Antlitz der Menschheit
Nachdruck Knieß Verlag, Bremerhaven 1988


Ich bin verheiratet, habe zwei Töchter, zwei Söhne und ein hypothekenfreies Haus; das sind also zusammen acht Kinder. Neben dem Hause liegt mein Anteil am Planeten Erde in Größe von 12 Meter Länge, 10 Meter Breite und 6378000 Meter Tiefe, nutzbar ist nur die alleroberste Schicht. Auf dieser befindet sich neben einer Anhöhe von 0,7 Meter eine dreischnittige Wiese von beinahe 6 Quadratmeter, auf der Höhe steht im Sommer ein Tisch, im Winter Schnee. Die Obstbaumzucht ist sehr beträchtlich, mein jüngster Sohn behauptete, im letzten Sommer acht Äpfel „gesehen“ zu haben. Ferner sind da Kartoffelländereien, die einen solchen Ertrag liefern, daß die ganze Familie davon mindestens dreimal im Jahre Pellkartoffeln essen kann. Herrlich sind auch die Blumenanlagen und das Rosarium, die ich zum Malen benutze mit Ausnahme des Blumenkohls. Der Viehbestand beträgt einen Kater, vier Hühner und viele andre Vögel, diese aber nur in der Luft und nur vorüberfliegend.
In die erste Zeit meines Hausbesitzertums fallen die Anfänge meiner Schriftstellerei, an der ich seither leide; und das kam so: Im Jahre 1920 gab ich den berühmten und weitverbreiteten Ostmarkkalender heraus, zum erstenmal und gleich mit solchem Erfolg, daß mir 2900 Stück davon zur eignen Benutzung liegenblieben. Das Papier erwies sich zur praktischen Benutzung ungeeignet, war aber auf der einen Seite unbedruckt, so daß es förmlich nach einem Beschreiben schrie. Diese Arbeit übernahm ich denn auch, und sie artete aus zu obiger Schriftstellerei mit einer dreimaligen Krisis, dargestellt durch die drei Bücher „Entdeckung Ostpreußens“, „Kuri-neru“ und „Der Mond fällt auf Westpreußen“, Werke, die alle Aussicht haben, in die Weltliteratur überzugehen, denn sie behandeln das ewige Menschheitsproblem von der Schönheit und zugleich Verlassenheit Ostpreußens, einer Provinz der Deutschen Republik, nahe am Nordpol. Diese Bücher sind im Verlage von Carl Reißner in Dresden erschienen und kosten 4 M. das Stück; ich weise auf sie des Verlegers wegen empfehlend hin. Ihre Eigenart ist, daß Text, Bilder und auch die Druckplatten zu diesen Bildern von meiner Hand gefertigt sind.
Ich war nicht von Geburt an Hausbesitzer, sondern vorher Pädagoge, und zwar in der Abart des Zeichenlehrers an einem Gymnasium. Dieses Gymnasium und das umliegende Gebiet sind jetzt in polnischen Händen, aber das ist nicht  meine Schuld, meine Tätigkeit war im Gegenteil sehr ersprießlich. Denn ich hatte an der Anstalt auch Deutsch, Rechnen, Chor- und andern Gesang, Religion, Schlittschuhlaufen, Geographie, Geschichte, Schwimmen, Naturkunde, Latein auf Sexta, Zeichnen, Schönschreiben und die Gymnasialkasse. Woraus zu sehen, daß ein Künstler tatsächlich zu allem fähig ist.
Die Naturkunde machte mir einige Schwierigkeiten, weil ich von Pflanzen nur die calta palustris mit ihrem wissenschaftlichen Namen benennen konnte; ich mußte mich deshalb aufs Lehrbuch verlassen, das mir aber einmal einen schlimmen Streich gespielt hat. Denn es schrieb für Montag, den 14. Juni 1915, Stunde von zehn bis dreiviertel elf, eine Pflanze als Lehrstoff vor, die Frauenflachs oder Leinkraut hieß: linaria vulgaris. Die Quartaner brachten daher am Montag, dem 14. Juni, zur Stunde von zehn bis dreiviertel elf den Frauenflachs von einem Felde neben der Schule. Als ich nun nach dem Lehrbuch ging und, ihm folgend, die Blume anfing zu beschreiben, dozierte ich von gelben, goldgelben Blüten, aber die Schüler behaupteten, daß sie blau, himmelblau seien, es war auch wirklich nicht zu bestreiten. Auch das andre wollte sich durchaus nicht mit dem Buche vereinbaren, was recht peinlich wirkte und zu unangenehmen Verwicklungen führte. Denn, wie sich’s später ergab, das Leinkraut hieß nur Frauen-flachs, w a r aber keiner.
Das Rechnen machte mir anfangs Mühe, weil ich damals jungverheiratet war, bis ich entdeckte, daß der Primus der Quinta alle Aufgaben stets richtig hatte, wonach ich mich dann richtete. Turnen dagegen ging sehr gut, da ich in meinem Zeugnis „Turnen sehr gut“ hatte; und das kam daher, daß ich im Examen bei der Vorführung eines Klimmzuges, der ohne mein Verschulden zur Riesenwelle ausartete, der hohen Prüfungskommission auf die Köpfe fiel, ohne Absicht, aber es setzte die Herren derart in Erstaunen, daß sie auf jede weitere Vorführung meiner Fähigkeiten dankend verzichteten. Auch mein Schwimmlehrerzeugnis lautete hervorragend, und zwar aus ähnlichen Gründen. Ich war bei der Prüfung ins Bassin gestiegen, hatte eine Leitersprosse verfehlt und mußte kopfüber ins Wasser stürzen, war auch sofort untergegangen und erst nach längeren Bemühungen an die Oberfläche zurückgelangt, das wurde als vorzügliches Tauchen gewertet. Ich habe seitdem auf meinen Lorbeeren ausgeruht und nie mehr getaucht.
Gesang war mein Lieblingsfach, namentlich mit weißen Handschuhen und Taktstock bei der Kaisergeburtstagsfeier. Auch die Kassenführung wurde von Erfolg begleitet: nach einem Jahr intensiver Hantierung mit den Kassenbüchern bemühten sich nacheinander der Direktor, dann der Mathematikprofessor, zwei Rechnungsprüfer, mehrere Rechnungsräte und der Rechnungshof in Berlin, Ordnung hineinzubringen. Ob ihnen das bis heute gelungen ist, weiß ich nicht. In den Zeichenstunden kamen die Schüler sehr gut vorwärts, namentlich im Skatspielen und Zigarettenrauchen. Meine Religionsstunden auf Sekunda waren nur ein Druckfehler im Gymnasialjahresbericht. Als ich dann in den wohlverdienten Ruhestand getreten wurde, konnten wir, meine vorgesetzte Behörde und ich, uns gegenseitig die erste reine Freude bereiten.
Wenn also die Jugend mir nicht viel verdanken konnte, so verdanke ich ihr desto mehr. Denn meine Lehrtätigkeit fiel in die Zeit der Wandervogelbewegung, dieses letzten Ausläufers der deutschen Romantik, und ich ergab mich ihr ganz. Ich wanderte mit den jungen Scharen, zupfte Gitarre und kochte im Freien. Aus der Anrede „Herr Oberlehrer“ ward dann das „Du“, von den kleinsten Knirpsen mit Hochgefühl gebraucht. Mein Disziplinhalten hat dadurch nicht gelitten, denn es war da nichts zu verderben, aber ich verdarb es gründlich mit meinem Lehrerkollegium, denn ich mußte die Schulsünden meiner Ortsgruppe vor ihm vertreten. So daß mir der Gedanke kam, die Gruppe habe mich als geeigneten Sünden- und Prellbock auserlesen. Da ich aber auch die Forderungen der Schule der Jugend gegenüber durchdrücken mußte, hatte ich es auch hier nicht leicht. Es ist eben nicht ratsam, Autoritätsperson und Autoritätswächter zugleich zu sein. Aber meine unglaubliche Fähigkeit, eine jede ihrer Dummheiten und Sentimentalitäten mit vollem Verstande und Herzen mitzumachen, überzeugte sie von meiner Stilechtheit. Nun, diese zweite und bessere Jugendzeit ist vorübergegangen, nicht nur bei mir; sie gehörte zu den Dummheiten, die das Leben lebenswert machen.
Ich hatte mir in diesen Jahren eine Menge von Meinungen und Ansichten angeschafft, wie sie jeder anständige Mensch verpflichtet ist, sich zuzulegen. Meine erste und wichtigste Ansicht über die Kunst lautet: Wenn du Ansichten über die Kunst hast, so behalte sie still für dich. – Hiernach ist es mir unmöglich, die andern, zum Teil sehr interessanten, verlauten zu lassen. Nur meine Definition der Malerei möge hier folgen: Die transzendentale Kosmologie der duodimensionalen Planisubstanziation eruiert durch ultimative Exzessivität hybrider Molekularexpansiationen sphärischer akkumulativer Bedingtheiten. Dagegen ist wohl kaum etwas zu sagen. Dazu meine Anschauungen über die Künstler: Zweck und einzige Sendung der Künstler ist, Material zu liefern für Kritiker, Dissertationen und Kunstgeschichten hervorragender KunstschriftsteIler, die dadurch erst die wirkliche Kunst erschaffen. Meine Ansicht über Politik und Menschheit ist bei näherer Besichtigung nur bei äußerster Vorsicht und Sichtung geeignet, Aussicht auf Nachsicht einsichtiger Menschen zu erlangen, sie ändert sich übrigens je nach der Dünnigkeit meines Geldaufbewahrungsortes.
Es ist selbstverständlich, daß ich auch Meinungen über die Frau habe, sie sind von mir auf ihre Richtigkeit durchaus erprobt und lauten: Es gibt zwei Arten von Frauen, erstens solche, die vom Manne Kinder kriegen, zweitens solche, von denen der Mann Kinder hat. Die zweite Art der Kinder bringt zwar auch nichts ein, kostet aber nur die Auslagen von Farben, Pinsel, Tinte, Papier und ähnlichen Utensilien.
Bevor ich zu diesem allem kam, besuchte ich die Kunstakademie zu Königsberg i. Pr. Infolge verschiedener Stipendien und Preise kam ich hier auf die kuriose Idee, ein großer Künstler zu sein; ich bildete meine Augen zum photographischen Objektiv aus, lotete und winkelte mit Begeisterung. Es war da ein alter Herr als Professor, er hieß Max Schmidt nur, aber er hat mir durch sein Menschentum viel gegeben, und es tut mir jetzt noch leid, daß ich ihm zehn Mark schuldig geblieben bin, denn er ist schon lange tot. „Wollen Sie eine Landschaft malen“, sagte er zu uns, „so denken Sie, es ist ein Mädchen, das Sie heiraten wollen, sehen Sie die Landschaft des Morgens, Mittags, Abends, trübe, lachend, finster, von allen Seiten, dann setzen Sie sich hin und malen Sie.“ Das ist ein sehr guter Rat, fürs Heiraten und fürs Malen, und ich habe ihn deshalb nie befolgt.
Um einmal den Versuch zu machen, etwas ernster zu sein, soweit es dies im Grunde lächerliche Leben zuläßt: Wir jungen Raffaele und Rembrandts studierten damals aufs sorgfältigste und eindringlichste vor allem die Form, kamen jedoch nicht hinter ihr Geheimnis, aber auf den neuen Kunstschulen gelingt das noch weniger, weil es überhaupt nicht erlembar ist. Erst wenn man sieht, was nicht zu sehen ist, erfühlt, was nicht mit Fingern erreichbar, vergißt, was alle wissen, wiedergibt, was nicht gegeben ist, erst wenn man Formen zerstören kann, um sie sich selber wieder aufzubauen, wenn man das Wollen nicht mehr will und das können nicht mehr kann, erst wenn die verflucht geschickte Hand ungeschickt wird, erst dann kann es vorkommen, daß bei günstiger Gestirnkonstellation, und wenn man seiner selbst nicht mächtig ist, daß dann ein Strich, ein einziger sich formt, der etwas wert ist. Während ich dieses Satzungeheuer tippe, denke ich, daß ich den Mund doch wohl etwas zu voll genommen habe, außerdem erscheint mir das Gesagte nicht Original, sondern Plagiat indem Rainer Maria Rilke etwas Ähnliches, aber viel schöner, über das Versemachen gesagt hat – immerhin, es liegt doch etwas Wahrheit zwischen den Zeilen, das werden mir viele meiner Schwarzweißkollegen zugeben.
Und noch weiter will ich versuchen, besonders ernsthaft zu bleiben, denn es handelt sich um Frauen. Ich male mit Vorliebe Blumen und Frauen, aber diese Zusammenstellung soll kein „lyrisches Intermezzo“ sein, kein Rückfall in die ritterlichen Zeiten, die die Frauen „flechten und weben“ ließen „himmlische Rosen ins irdische Leben“, weil sie sonst weiter keine Rechte beanspruchten und sich an dieser Flechtarbeit genügen ließen. Ich male also gern Blumen und Frauen, und zwar am liebsten in Aquarell; die Ölfarbe ist für beide zu materiell. Das, was Blumen und Frauen haben, den weichen Glanz, die Perlmutterfarben, das Durchleuchten des Blutes, die schwimmenden Töne, Samttiefen, durchsichtige Halbschatten, schwebende Lichter, die Beseelung der Epidermis, das alles ist zum Ausdruck am besten vorbehalten der immateriellsten aller Farbenarten, der Wasserfarbe. Am besten noch, wenn der Malgrund, das Papier, fast unwirklich ist, dünn und durchsichtig; und am allerbesten, wenn ein solches Bildnis „bei Gelegenheit“ entsteht, in dem Sinne, wie Goethe ein Gelegenheitsdichter war. Der Bildner kann sich ja nur ans Sichtbare, an die Oberfläche halten, die immer nur eine Bildung des Inneren, Unsichtbaren ist.
Und wenn ich noch einige Sätze als Graphiker hinzufügen darf: Ich glaube fast, das Wesen der Graphik, also hier der Druckgraphik, ist am besten zu erfassen als das Vergnügen an der glänzenden, glatten Oberfläche von Metallplatten, Holzstöcken oder Steinen. Das Hantieren darauf, das Beseelen dieser mystischen, oft geheimnisvoll schimmernden Oberfläche, sie zum Sprechen zu bringen durch genaue Kenntnis ihrer Verwundbarkeit auf chemischem und physischem Wege, immerfort Neues, oft Überraschendes aus solcher Ebene herauszuholen, ihre Geheimnisse zu ergründen, alle Möglichkeiten durchzuproben und zuletzt – zur größten Einfachheit zurückzukehren. Neben einem graphischen Blatt müßte eigentlich immer die zugehörige Druckplatte sein. Das ist der künstlerische Genuß der Graphik, der immer mehr schwindet durch das billige Massenvergnügen unsrer Zeit an der heruntergekommenen Photographie, die schon eine „Photographik“, ein Wechselbalg von Lichtbild und Graphik wurde. –
Bevor ich aber auf die Kunstschule kam, besuchte ich ein Gymnasium bis Prima. Wenn nun aber jemand glaubt, ich werde auf meine Schule und die Schule im allgemeinen schimpfen, so irrt er sich, das ist nicht mehr originell und hat auch niemals geholfen. Ich habe auf ihr nicht Betrügen, Lügen und andres Böses gelernt, wie viele von sich behaupten, ich wußte alles schon vorher; dagegen konnte ich viel Gutes und Herzerquickendes mir aneignen, z. B. die Verba auf mi und die Massenmördereien der Weltgeschichte. Aus der Tatsache, daß meine Zensur im Zeichnen meistens genügend und darunter war, zog ich den Schluß, ich sei zum Künstler geboren.
Vor dieser Zeit war ich Kind, und zwar, wie behauptet wird, ungebührlich lange. Im Alter von zehn Jahren schrieb ich meine ersten Romane und las sie schwächeren Schulfreunden und jüngeren Geschwistern vor; wenn die vor Langeweile wegliefen oder sonst ihrem Mißfallen Ausdruck gaben, verhaute ich sie. Jetzt kann ich das leider nicht mehr machen. Auch entsinne ich mich, daß ich im Alter von vier Jahren aus irgendwelchem Grunde zu sterben beabsichtigte; meine Eltern saßen an meinem Krankenbett und besprachen die Kosten meines Begräbnisses. Da ward es mir unheimlich, ich hatte genug vom Sterben, änderte mein Vorhaben und blieb leben, was ich auch bis jetzt trotz Hauszinssteuer, Einkommen-, Vermögens- und Umsatz-, Grund- und Kanal-, Lohn-, direkten und indirekten Steuern, Kritikern und lieben Freunden, Kinos, Völkerbund, Young-plan, Photographikern, Korridor, bilderlosen Wänden, leeren Händen, Parteien usw. bis ins Unendliche, noch niemals grundsätzlich bedauert habe.
Vier Jahre vor obiger Krankheit wurde ich geboren, und zwar als Sohn eines Landlehrers gleichen Namens, in dem Dorfe Kl.-Schläfken am 5. April 1876. Für Denkmalwütige gleich hier die traurige Nachricht, daß mein Geburtshaus bald nach meiner Geburt als baufällig abgerissen worden ist.
Über die Zeit vorher bin ich mir nicht ganz im klaren, aber aus vielen traumhaften Erinnerungen sowie aus meinem Verhältnis zu Königsthronen schließe ich, daß ich ursprünglich beabsichtigt hatte, als Königssohn auf die Welt zu kommen. Da aber die heutige Konjunktur für diese Söhne nicht gerade günstig ist, bin ich auch so ganz zufrieden.


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